www.melaniewiora.de - Au§en ist in mir I
© by Melanie Wiora 2005
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Fotografie gegen die Entropie – Zu Melanie Wioras Fotoserie
Außen ist in mir
Helmut A. Müller
Für den Medientheoretiker Vilém Flusser
unterliegt auch die Wahrnehmung den Gesetzen der Entropie. Nur das Ungewöhnliche,
das Neue wird wahrgenommen. Aber auch nur für eine gewisse Zeit.
Das Neue bleibt nicht neu. Nach einer Phase der Gewöhnung kühlt
es ab und wird übersehen. Ästhetik erscheint unter dieser Prämisse
als zwischen dem Pol unerreichbare Dichte in der Singularität
eines Urknalls und dem der absoluten Indifferenz eingespannt.1
Menschliche Arbeit, Kunst, Kultur, Religion und auch die Wissenschaft
wäre in dieser Perspektive als Arbeit gegen die Indifferenz, das
Übersehenwerden und das Vergessen zu verstehen. Fotografie und insbesondere
künstlerische Fotografie wie die von Melanie Wiora ist in diese Arbeit
miteinbezogen. Für Vilém Flusser haben mittels Fotoapparaten
hergestellte Bilder wie auch die Schrift Teil am Spiel mit symbolischen
Bildern und Begriffen und damit am Kampf um die Möglichkeiten neuer
Wahrnehmung. Aufgabe der Fotografie im Sinne von Flusser wäre es
dann, die in den Fotoapparaten angelegten Programme der menschlichen Absicht
zu unterwerfen. Jene Fotografie wäre die beste, bei welcher
der Fotograf das Apparateprogramm im Sinne seiner menschlichen Absicht
besiegt.“2
Wiora nimmt in ihrer neuen Serie Außen ist in mir die Arbeit gegen den Apparat in der Form auf, dass sie die im Apparat im Augenblick des Fotografierens mit Hilfe der Apparateprogramme entstehenden Bildern digital bearbeitet und in neue, intensive, dichte Bilder im Zwischenbereich von äußerer und innerer Wahrnehmung überführt. Die Serie im quadratischen Format zeigt durch die Bildaußenkanten angeschnittene Portraits vor auf wenige Elemente wie Hochhäuser, Masten mit Stromkabeln und Leuchtreklame reduzierten fragmentierten Landschaften. Die Szenen scheinen zwischen absichtvoller Inszenierung und absichtsloser Notation zu kippen. Offen bleibt auch, ob der Blick der Portraitierten im eigenen Inneren, im Nirgendwo oder in einem für den Betrachter nicht einsehbaren Außerhalb landet. Die landschaftlichen Hintergründe und die Gesichtslandschaften sind in direkte Beziehung zueinander gesetzt. Bewusst herausgehobene Bildelemente induzieren die Vorstellung von etwas wie einem Netz oder Gewebe. In der Arbeit Anne nimmt eine nicht mehr klar abgrenzbare geknickte rote Linie — vielleicht ist es die rot angestrichene Brüstung eines modernen Industrie- oder Wohnblocks — das schwebend-schwingende Auf und Ab der Oberlippe der Protagonistin auf, die roten Buchstaben einer Motel-Leuchtreklame die Senkrechte der Nase und das digital intensivierte Graublau der Wolken die Farbe des linken Auges. Die Stromleitungen aus der Industrielandschaft weben das Gesicht in das Ensemble ein. Die intensivierten Farbwerte Graublau, Weiß und Rot nehmen der Landschaft und dem Gesicht die Plastizität und lassen beide flächiger erscheinen. Die Gesichtslandschaft gleicht sich der Stadtlandschaft an. Bewusst gesetzte Unschärfen im Vorder- und Hintergrund, das Fehlen des Mittelgrundes und die flächig wirkende Tiefenräumlichkeit sorgen dafür, dass die Ebenen Vorder- und Hintergrund einander durchdringen und der Eindruck von Immaterialität entstehen kann. Die sonst klaren Abgrenzungen von Innen und Außen, Landschaft und Gesicht, Mensch und Natur geraten ins Fließen. Aber Portrait und Landschaft lösen sich nicht entropisch ineinander auf, sondern verstärken einander in Richtung Dichte. Das von Wiora mittels digitaler Bearbeitung transformierte Bild stellt eine intensivierte Sicht der Wirklichkeit vor Augen, die psychische Zustände und das Unterbewusste mit einschließt. Neben der Wiedergabe der äußeren Erscheinung tritt eine innere Sicht , der Zwischenbereich, der durch die Wechselwirkung dieser beiden Erfahrungen entsteht.”3 Damit schafft Wiora mit dem Apparat gegen das Apparateprogramm Bilder, die die Wahrnehmung von Mensch und Welt offenkundig nicht festlegen, sondern für andere Wahrnehmungen öffnen. Das Bild stellt sich nicht mehr zwischen Mensch und Welt, sondern öffnet den Blick für bisher noch nicht gesehene Seiten. Melanie Wioras Serie öffnet somit die Wahrnehmung für das Andere der Wirklichkeit.
1 Thomas Knöfel, Vilém Flusser; in: Ästhetik
und Philosophie, Hrsg. J.
Nida-Rümelin und M. Betzler, Stuttgart
1987, S. 280.
2 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen,
1989, S. 341.
3 Melanie Wiora in einem unveröffentlichten Manuskript von 2005.
Aus "Beyond the Moment", Katalog, Helmut A. Müller (Hrsg.), Hospitalhof Stuttgart, Edition Hospitalhof Stuttgart, 2005 – Weitere Texte